EINLEITUNG

 

Weite Winkel ermöglichen speziell in der Landschafts- und Architekturfotografie jene Bilder, die unverkennbar das «gewisse Etwas» haben. Sie bringen eine Räumlichkeit und Dreidimensionalität, die gerade bei Grossvergrösserungen zum Tragen kommt. Bereits in den frühen Tagen der Fotografie, als der Bildwinkel der Objektive auf maximal 60° limitiert war, bestand der Wunsch nach extremeren Perspektiven.

 

Zunächst schienen jedoch die Schwierigkeiten für ein solches Unterfangen unüberwindlich: Die Verzeichnung nahm untolerierbare Ausmasse an, und die natürliche Vignettierung der Blendenöffnung führte zu einem dramatischen Lichtabfall in den Bildecken. Als wäre das nicht schon genug, bereiteten chromatische und sphärische Aberrationen sowie die Bildfeldwölbung zusätzliche Schwierigkeiten. Im 19. Jahrhundert blieb der Bildwinkel auf 75° limitiert. Selbst das erreichte man nur unter Inkaufnahme von Eckunschärfen sowie einer miserablen Lichtstärke von 1:18 oder 1:25!

 

Die letzte Folge unserer «History»-Serie über klassische Zeiss-Objektive ist den «Biogonen» («bios» = Leben, «gonios» = Winkel) gewidmet. Ursprünglich 1936 von Ludwig Bertele als leichter Weitwinkel aus dem «Sonnar» entwickelt, galt das erste Biogon bald als bestes und gleichzeitig lichtstärkstes Kleinbild-Weitwinkelobjektiv. Nach dem 2. Weltkrieg übersiedelte Bertele in die Schweiz, wo er bei Wild Heerbrugg ein Serie von bahnbrechenden Luftbild-Objektiven enwickelte. Er liess neuste sowjetische Erkenntnisse in sein Design einfliessen, konnte den Bildwinkel auf 120° steigern und erhielt so das erste voll korrigierte Superweitwinkel-Objektiv des Weltmarktes: Das Wild «Aviogon» begründete den Weltruhm der Schweizer Luftbildkameras. Kurze Zeit später konstruierte Bertele für Zeiss einen vereinfachten, aber immer noch extrem leistungsfähigen Abkömmling, der für die Messsucher-Contax und die Hasselblad beinahe 50 Jahre lang produziert wurde.

 

 

DAS GOERZ / ZEISS HYPERGON

 

Die Dresdener Firma Goerz – später von Zeiss übernommen – schuf 1900 das erste wirkliche Weitwinkelobjektiv, das «Hypergon». Trotz Bildwinkeln von sensationellen 130° war es durch die vollkommen symmetrische Konstruktion weitgehend verzeichnungsfrei, und das Bildfeld war geebnet. Hingegen waren die chromatischen Aberrationen überhaupt nicht korrigiert, und die Vignettierung war so extrem, dass man nur mit einer druckluftbetriebenen Wirbelblende zu brauchbaren Aufnahmen kam – aber erst bei Blendenzahlen von f32!

 

Trotz der gravierenden praktischen Nachteile waren etwa bei italienischen Denkmalpflege einzelne Hypergone bis in die 1970er Jahre hinein im Einsatz. Durch den symmetrischen Aufbau hatte Goertz den ersten wichtigen Bildfehler der «Superwides» bezwungen, die Verzeichnung. Völlig ungelöst blieb aber das Problem der Vignettierung.

 

 

DAS ZEISS TOPOGON

 

Das Hypergon - nach der Übernahme von Goerz mittlerweile bei Zeiss produziert - war für den alltäglichen Gebrauch und speziell für die aufkommende Luftbildfotografie zu unhandlich. Robert Richter entwickelte deshalb 1933 eine chromatisch korrigierte und mit f6.3 drastisch lichtstärkere Version, die allerdings auf nur 90° Bildwinkel limitiert war. Als «Topogon» vermarktet, wurde sie bald zum Standardobjektiv für die Luftbildfotografie.

 

Auch das «Topogon» litt unter extremer Vignettierung – notgedrungen, wie man glaubte: Schliesslich war es offensichtlich, dass die Blendenöffnung um so schmaler wurde, je mehr man sie von der Seite her beobachtete. Der Lichtfluss musste dadurch eingeschränkt sein; mathematisch ausgedrückt nahm die Beleuchtungsstärke mit dem Faktor «Cos4 des halben Bildwinkels» ab, wenn man von weiteren Faktoren wie Glasabsorption und -Reflektion absieht.

 

Zeiss fertigte bereits vor dem 2. Weltkrieg ein 25 mm 1:4.5 «Topogon» für die Contax. Nikon kopierte das Design praktisch unverändert für sein Nikkor 25 mm 1:4, während Canon es leicht asymmetrisch baute und als 25 mm 1:3.5 vermarktete. Die Präzision, mit der dieses Objektiv gefertigt werden musste, zeigt sich darin, dass die beiden Linsen des Topogon 6.3/75 mm im Scheitelpunkt nur 20 µm voneinander entfernt waren (d. h. 1/5 Haardicke).

 

Zeiss FS144 VorlaeuferQuerschnitt

 

Zeiss FS144 RussarQuerschnitt

ROOSINOV UND DIE KORREKTUR DER VIGNETTIERUNG

 

Bis 1946 galt es den Optikern als unumstössliches Gesetz, dass die Beleuchtungsstärke mit zunehmendem Bildwinkel dramatisch abnimmt. Das Entstehen dieser sogenannten «natürliche Vignettierung» (im Gegensatz zu einer Vigettierung durch die Fassung) ist leicht nachvollziehbar, wenn man sich ein rundes Loch in einem Papier («Blende») zunächst genau von vorne und dann unter zunehmend seitlicherem Winkel ansieht: Die frontal kreisrunde Blende wirkt immer elliptischer (und damit auch kleiner), je weiter seitlich man sie betrachtet.

 

Der Zeiss-Chefoptiker Wandersleb hatte ein ganzes Buch über die Unüberwindbarkeit dieses Problems geschrieben – aber auch bedeutende Leute können irren: Der sowjetische Mathematiker und Optiker Michael Roosinov legte in einem bahnbrechenden Patent von 1946 einen Weg dar, um die «unvermeidliche» natürliche Vignettierung drastisch zu reduzieren. Mittels zweier symmetrischer, stark negativer Menisken, die das eigentliche Objektiv «einrahmten», konnte er die Eintrittspupille bei seitlichen Winkeln so vergrössern, dass die natürliche Vignettierung weitgehend behoben wurde: Selbst stark seitlich betrachtet scheint die Blendenöffnung rund zu bleiben! Diese Erkenntnis löste eine Revolution bei der Entwicklung von Weitwinkeln aus.

 

BERTELE'S WEITWINKEL-SONNAR: DAS ZEISS BIOGON 35 MM 1:2.8


Zusammen mit dem legendären «Olympia-Sonnar» 18 cm 1:2.8 rechnete Bertele 1936 ein weiteres Objektiv, das bald von Kleinbildfotografen rund um die Welt in höchsten Tönen gelobt wurde: das «Biogon» 3.5 cm 1:2.8. Bertele ging dabei von seinem «Sonnar» 5 cm 1:1.5 aus. Um den Bildwinkel auf 65° zu erhöhen, vergrösserte er das Hinterelement drastisch (siehe Abbildungen unten).

Zeiss Biogon 35 mm f28


Dadurch bekam er die Fassungsvignettierung in Griff, und die bekannt hervorragende Abbildungsleistung der «Sonnare» blieb voll erhalten. Interessanterweise hatte Bertele damit bereits 1936 Roosinovs Erkenntisse vorweggenommen: Die letzte negative (d. h. verkleinernd wirkende) Linse führte dazu, dass die Blendenöffnung auch von der Seite her betrachtet relativ rund wirkte. Genau dies war das Schlüsselelement, das zu einer Reduktion der «natürlichen» Vignettierung führte.

 


 

BERTELE BEI WILD HEERBRUGG: DIE AVIOGONE

 

Bereits vor Ende des 2. Weltkrieges trennte sich Bertele von Zeiss, übersiedelte 1943 nach München und dann 1946 in die Schweiz. Zeiss hatte ihm nie die Anerkennung zukommen lassen, die ihm aufgrund seines Könnens und seiner Bedeutung eigentlich zukam; selbst die gewünschte feste Anstellung war ihm versagt geblieben. Bei Wild Heerbrugg begann Bertele an einer Serie von Weitwinkeln für die Luftbildfotografie zu arbeiten, die Anfang der 1950er Jahre die Grundlage für den weltweiten Erfolg der Schweizer Luftbildkameras legten.

 

Nach einigen Umwegen nahm Bertele im Wesentlichen die hintere Hälfte seines 2.8/35 mm «Biogons» von 1936, verdoppelte sie zu einem (fast) symmetrischen Objektiv und integrierte Roosinovs Erkenntnisse, indem er negative Menisken zur Korrektur der Vignettierung davorsetzte. Im Gegensatz zu Roosinov, der einen einzelnen stark gespannten Meniskus gebraucht hatte, verteilte Bertele dessen Brechkraft auf zwei oder gar drei einzelne Linsen, die teils aus Gläsern mit niedriger Dispersion geschliffen wurden. Dadurch wurden erstens Roosinovs Patent umgangen. Zweitens wurden aber auch die sphärischen und chromatischen Aberrationen reduziert.

 

Damit brachte Bertele die Gesamtleistung auf Werte, die für ein Fotoobjektiv auch heute noch traumhaft sind: Die «Aviogone» zeichnen bei 90° oder 120° Bildwinkel ein Format von ca. 18x18 cm aus – dies bei einer Auflösung von 100 Lp/mm in den Ecken und 250 Lp/mm im Bildzentrum, wohlgemerkt bei Offenblende. Zudem, extrem wichtig für die Luftbildfotografie, waren die Aviogone praktisch verzeichnungsfrei: Kein Bildpunkt auf dem Negativ wich mehr als 10 µm vom Sollwert ab. Man vergleiche diese Werte mit dem Sensor der A900, der in der Praxis rund 65 Lp/mm auflöst! Ein mit dem «Aviogon» aufgenommenes Luftbild enthält rund die 200fache Informationsmenge einer perfekten A900-Aufnahme. Ein anderer Vergleich: Das Sony/Zeiss ZA 2.8/16-35 mm verzeichnet fast 1000fach stärker als das Aviogon...

 

Ab 1958 entwickelte Bertele seine Aviogone zum «Super-Aviogon» weiter. Dieses Objektiv festigte die weltweit führende Stellung der Schweizer Photogrammetrie. Interessanterweise übernahm Wild Heerbrugg später den Zeiss-Konkurrenten Leica­­.

 

 

 

DAS ZEISS BIOGON 21 MM 1:4.5

 

Es ist klar, dass das «Aviogon» den ehemaligen Vorgesetzten von Bertele bei Zeiss nicht verborgen bleiben konnte. Bertele rechnete praktisch zeitgleich eine vereinfachte Variante des «Aviogons» für die neu konstruierte Messucher-Contax, die unter der Bezeichnung «IIA» bzw. «IIIA» ab 1951 in Stuttgart bei Zeiss in Stuttgart produziert wurde. Das neue «Biogon» war der erste Superweitwinkel für die allgemeine Fotografie.

 

90° Bildwinkel

 

Angemeldet am 5. Juli 1951 beim Schweizer Patentamt, wurde das «Biogon» 21 mm 1.4.5 bald zum Wegbereiter einer neuen Art des Fotografierens. Detailauflösung (250 Lp/mm), Kontrastübertragung und Verzeichnungsfreiheit (0.4%) übertreffen alle heutigen SLR-Superweitwinkel. Gesamthaft wurden knapp 15’000 Exemplare gebaut. Praktisch identisch aufgebaute «Biogone» wurden auch für das Mittelformat (Hasselblad, 4.5/38 mm) und das Grossformat (Linhof, 75 mm Brennweite) gebaut.

 

Alle Biogone wurden in der bekannten Zeiss-Qualität gefertigt – so sind die Fassungen innen goldbeschichtet, damit die einzelnen Linsen bei kleinsten Toleranzen reibungsfrei in die Fassung gleiten können!

 

120° Bildwinkel

 

1952 erweiterte Bertele sein Biogon-Design auf einen Bildwinkel von sage und schreibe 120° bei einer Lichtstärke von 1:6.3. Der Prototyp war mit einer Fluoritlinse zur Reduktion der chromatischen Aberrationen ausgestattet. Leider kam dieses Biogon nie auf den Markt.

Zeiss FS144 BiogonQuerschnitte

 


Zeiss Biogon MosognoWald

Oben: Weite Winkel um 90° sind aus der Landschafts-Photographie nicht mehr wegzudenken. Spätherbstliche Alplandschaft im Valle Onsernone (Tessin, Schweiz)

 

KOPIEN UND WEITERENTWICKLUNGEN

«Wie üblich» möchte man fast sagen: Natürlich wurden auch Bertele’s Superweitwinkel weltweit von den Mitbewerbern imitiert. Das simple Kopieren war diesmal etwas schwieriger, weil die «Aviogone» und die neuen «90°-Biogone» erst nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt worden waren. Schneider Kreuznach rechnete nach Auslaufen der Patente Roosinovs um 1955 eine vereinfachte Variante des Biogons mit nur je einer Zerstreuungslinse an Front- und Rückseite. Dieses «Super-Angulon» wurde sowohl für das Grossformat als auch für die Leica M in verschiedenen Varianten gebaut. Erst kürzlich brachte Leica mit dem neuen 3.4/21 mm ein modernes Objektiv dieses Typs auf den Markt.

Aber auch Zeiss liess es sich nicht nehmen, das ursprüngliche «Biogon» von Bertele weiter zu entwickeln. Biogone waren auf dem Mond, und allein für das Leica-M-Bajonett baut Zeiss nach wie vor eine ganze Reihe von leistungsstarken Biogonen.

Für Spiegelreflexkameras eignen sich die Biogone prinzipienbedingt nicht, denn als symmetrische Konstruktionen mit kurzen Brennweiten würden ihre Hinterlinsen mit dem Spiegel kollidieren. Eine Zeitlang wurden Biogon-Klone aber dennoch für SLRs produziert: Zwischen 1955 und ca. 1970 musste man bei SLRs den Spiegel hochklappen und einen separaten Sucher verwenden, wollte man Superweitwinkel-Aufnahmen machen. Alle namhaften Hersteller hatten entsprechende Objektive im Programm - so auch Minolta, dessen «Rokkor» 4.5/21 mm eine praktisch getreue Kopie des urspünglichen Zeiss «Biogon» 4.5/21 mm ist ...

Ludwig Bertele wurde 1959 für seine bahnbrechenden Objektivkonstruktionen – die Ernostare, die vielen Sonnare, die Biogone und die Aviogone – von der ETH Zürich mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet, eine Anerkennung, die er sehr schätzte. Er verstarb im hohen Alter 1985 in Wildhaus SG.