Zeiss Tessar f45 dsc03031

Vier Tessare mit der Lichtstärke f4.5 und verschiedenen Brennweiten: 21cm, 15cm, 7.5cm und 13.5cm (in der Balgenkamera).
Das Zeiss Tessar 21cm 1:4,5 kostete um 1925 soviel wie 100g Gold ..
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Zwischen 1900 und 1950 dominierte Zeiss weltweit und unangefochten den Bau von Foto-Objektiven. Wie keinem anderen Hersteller war es Carl Zeiss ab 1880 gelungen, die optische Forschung zu stimulieren und Erkenntnisse aus verschiedensten Gebieten wie Mathematik, Physik, Chemie und Feinmechanik systematisch zu bündeln. Durch eine enge Kooperation von Carl Zeiss mit dem Physiker Ernst Abbe und dem Glashersteller Otto Schott wurden in den 1880er Jahren in Jena optische Gläser entwickelt, die erstmals eine weitgehende Korrektur aller Abbildungsfehler erlaubten. Die Bedeutung und der Einfluss von Zeiss auf die Fotoindustrie kann kaum überschätzt werden.

Zunächst gehen wir detailliert auf die Zeiss-Objektivlinie ein, die zur Grundlage praktisch aller heute produzierten Objektive wurde:

Zeiss Tessar, das „Adlerauge“ (Paul Rudolph 1902)
Zeiss Sonnar (Ludwig Bertele 1931)
Zeiss Planar und Biotar (Paul Rudolph 1896, Merté 1927; Durchbruch um 1960)
Zeiss Biogon (Ludwig Bertele 1936 bzw. 1951)

Alle diese Objektive waren zu ihrer Zeit führend und beeinflussten das Objektivdesign massgebend. Wir haben die faszinierendsten und seltensten Zeiss-Klassiker aus der Versenkung geholt, sie überholt und mit ihnen am digitalen Vollformat sowie an aufwändig restaurierten Original-Zeiss-Kameras fotografiert.

 

VORGESCHICHTE: EINFACHE LINSEN, ACHROMATEN UND DOPPELTE ACHROMATEN

Die Geschichte der Optik verliert sich in grauer Vorzeit. Aus Quarz geschliffene Linsen finden sich ebenso wie die Überreste elektrischer Batterien bereits in mesopotamischen Ausgrabungen, die man in die Zeit vor 5000 Jahren datiert. Rätselhaft sind jene grossen, gut korrigierten asphärischen Linsen, die sich in Wikingergräbern aus dem 8.-12. Jahrhundert finden, denn die entsprechende Technologie ist uns erst seit den 1950er Jahren zugänglich...

Sphärische Linsen weisen eine Reihe von Abbildungsfehlern auf (siehe Kasten). Einer der störendsten ist der Farbfehler: Je nach Wellenlänge des Lichtes werden die Strahlen unterschiedlich stark gebrochen („Dispersion“), was zu Farbsäumen führt. Während der grosse Physiker Isaac Newton die Farbfehler für nicht korrigierbar hielt, fand 1728 der Amateur-Optiker Chester Hall einen gangbaren Weg: Er kombinierte eine Sammel- und eine Zerstreuungslinse aus Gläsern mit unterschiedlicher Dispersion. Der Achromat war geboren.

1804 fand der Mediziner William Wollaston, dass die sphärischen Aberrationen einer Linse reduziert wurden, wenn man sie als Meniskus ausformte („Wollaston Meniscus“, f16). Das galt auch für den Achromaten, der entsprechend geformt ab 1839 als „Chevalier Landscape“ (f16) in der gerade aufkommenden Fotografie eingesetzt wurde. Diese Objektive erforderten bei den damaligen Fotoplatten immer noch minutenlange Belichtungen.

Josef Petzval’s „Portrait Lens“ von 1840 war mit der Lichtstärke von f3.6 eine Sensation, erlaubte sie doch das Porträtieren mit vertretbaren Belichtungszeiten von „nur“ einigen Sekunden. In den 1850er Jahren beschrieb der Mathematiker Ludwig von Seidel erstmals die optischen Abbildungsfehler in systematischer Form. Er benannte fünf monochromatische und zwei chromatische Abbildungsfehler. Im Prinzip standen danach die Mittel zur Verfügung, um leistungsfähige Objektive gezielt zu berechnen. In der Praxis dauerte es aber weitere rund dreissig Jahre, bis sich dieser mental anspruchsvollere Weg gegenüber dem simplen Herumprobieren durchsetzte.

Vergrösserte man den Bildwinkel des Achromaten, so nahm die Verzeichnung (Durchbiegung von Geraden am Bildrand) untolerierbare Ausmasse an. Aufbauend auf Seidels Erkenntnissen fanden 1866 Steinheil („Aplanat“) und Dallmeyer („Rapid Rectilinear“), dass eine symmetrische Konstruktion gleichzeitig die Verzeichnung behob, das Bildfeld ebnete und Koma ausglich. In der Zeit zwischen 1870 und 1920 dominierten diese allgemein „Doppel-Gauss“ genannten, symmetrischen Konstruktionen; ihnen fehlte einzig noch die Korrektur des Astigmatismus.

1896 modifizierte Paul Rudolph den „Doppel-Gauss“ durch je eine vor- und nachgeschaltete Linse zum „erweiterten Doppel-Gauss“ oder „Planar“. Wir werden es in der übernächsten Ausgabe näher beleuchten, da es sich erst um 1960 weltweit durchsetzte. Vorläufer: Zeiss Protar und das Cooke Triplet Als 1884 die neuen, von Schott und Abbe in Zusammenarbeit mit Zeiss entwickelten hochbrechenden Bariumoxid- und niedrig dispergierenden Fluorgläser erhältlich waren, wurde die Korrektion des Astigmatismus absehbar.

Paul Rudolph, damals Leiter der „Photographischen Abteilung“ von Carl Zeiss, legte 1890 den weltweit ersten „Anastigmaten“ vor: Das Zeiss Protar. Das Objektiv war ein unmittelbarer Erfolg. Innert zehn Jahren wurden 100'000 Exemplare in alle Welt verkauft; u. a. wurde es von der Basler Manufaktur E. Suter in Lizenz produziert. Den zweiten wichtigen Anastigmaten, das Cooke Triplet, entwickelte Dennis Taylor (1893). Der Dreilinser ist die simpelste Möglichkeit, um die Seidelschen Abbildungsfehler sinnvoll zu korrigieren. Auf das Triplet und seine Weiterentwicklungen (z. B. das Sonnar) gehen wir in der folgenden Ausgabe des Fotospiegels ein.

Zeiss FS141 TessarQuerschnitte

 

DAS ZEISS TESSAR

Das Tessar am Grossformat

Durch Auflösen des verkitteten Protar-Vordergliedes in zwei Einzellinsen erhielt Rudolph zusätzliche mathematische Freiheitsgrade, um verbleibende Bildfehler besser korrigieren zu können. Zudem kehrte er die Reihenfolge der beiden ersten Linsen um. Der dadurch erhaltene Vierlinser in drei Gruppen wurde 1902 als Tessar in der Lichtstärke f6.3 patentiert. Im Oktober 1904 stellte der erst 25jährige Ernst Wandersleb, der später zum Nachfolger von Paul Rudolph wurde, die klassische, lichtstärkere f4.5-Version vor. Zwischen 1900 und 1930 verdrängten die Tessare allmählich die älteren Objektivtypen.

Bis 1930 hatte sich die Lichtstärke der Kleinbild-Tessare sukzessive auf f2.8 erhöht; das Grossformat musste mit 1:3.5 auskommen. Eine weitwinklige Variante mit 76° Bildwinkel stand zur Verfügung (Tessar 2.8 cm 1:8), und ab 1928 folgten lichtschwächere APO-Tessare mit bis zu 120 cm Brennweite für die Reproduktion.

1934 kostete ein Tessar 5 cm 1:2.8 in fokussierbarer Fassung etwa 60 $, was dem Gewicht von 50 g Gold entsprach (heute über 2000.— sFr). Der Preis des Tessars 21 cm 1:4.5 fürs Grossformat lag bei 100 $ oder 4000.— sFr. Ab 1931 wurde das Tessar von Ludwig Berteles Sonnaren entthront: Diese neuen Zeiss-Spitzenoptiken boten gleichzeitig eine höhere Lichtstärke und bessere Detailauflösung.

 

Die zweite Karriere des Tessars

Das Tessar, das nach dem Ende des zweiten Weltkrieges rund fünfzigjährig war, begann bald eine zweite Karriere. 1936 hatte Igahee in Dresden die erste brauchbare Kleinbild-Spiegelreflex (SLR) vorgestellt, die Kine Exakta. Da der Spiegelkasten relativ viel Raum einnahm, kamen die (besseren!) Sonnare mit ihren weit ins Gehäuse ragenden Hinterlinsen nicht als Normalobjektive in Betracht. Beim Tessar hingegen war genügend Raum vorhanden. Zwei Jahre nach der Exakta folgte die Praktiflex, die nach dem zweiten Weltkrieg zur ersten professionellen System-SLR mit Wechselsucher, Motor und Langfilm-Magazin weiterentwickelt wurde („Praktina“). Als Dritte im Bunde der klassischen deutschen SLRs stellte Zeiss 1950 die Contax S („Spiegel“) bzw. „D“ vor, auf die wir später detailliert eingehen werden. Alle diese Kameras hatten einen Spiegel, Schlitzverschluss, Wechselobjektive und teils Wechselsucher. Alle wurden im Osten Deutschlands (Dresden) gebaut, und alle waren richtungweisend für sämtliche späteren japanischen SLRs.

 

Abbildungsleistung

Der Ruhm der Tessare beruht auf ihrer für die damalige Zeit fantastischen Detailschärfe und dem hohen Kontrast, den die Objektive am um 1900 vorherrschenden Grossformat zeigten. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass damals Vergütungen noch nicht existierten; jede Glas-Luft-Fläche reflektierte rund 5% des einfallenden Lichtes und verminderte so den Kontrast. Der Objektivkonstrukteur musste sich auf drei oder maximal vier Elemente beschränken, um das Bildergebnis nicht allzu flau werden zu lassen. Zusätzlich eingeschränkt wurde er durch die limitierenden Eigenschaften der damaligen Glassorten und die Tatsache, dass alles „von Hand“ gerechnet und gefertigt werden musste. Vergegenwärtigen wir uns, wie vor hundert Jahren um 1910 die ersten Automobile aussahen: Es waren krude Kutschen mit Blattfedern, einem hustenden und rochelnden „Verbrennungs-Motor“ und – vielleicht – einem einfachen Verdeck. Umso mehr erstaunt die Tatsache, dass ein rund hundertjähriges Grossformat-Tessar Fotos herzaubern kann, die es problemlos mit den Resultaten der besten DSLRs aufnehmen.

Das klassische Kleinbild-Tessar von Carl Zeiss Jena, das 2.8/50 mm aus den 1930er Jahren, lässt sich in seiner einfach vergüteten M42-Ausführung (ab ca. 1950) mit entsprechenden Adaptern bestens an modernen DSLRs nutzen. An derΑ α700 und der α900, die wir beide verwendet haben, bewegt sich die Detailauflösung auf dem Niveau des Zeiss ZA 2.8/24-70 mm – im Zentrum etwas besser, am Rand etwas schwächer. Das mag manchen überraschen, ist doch das genannte Tessar trotz solider Metallfassung ausgesprochen winzig und leicht (gerade einmal 120g!). Reflexe treten kaum auf, aber das Tessar-Bild wirkt aufgrund der einfachen Vergütungen deutlich flauer. Zugleich sind die Schatten sichtbar besser durchgezeichnet, was für die digitale Fotografie oftmals von Vorteil ist. Das Bokeh – die Charakteristik der Hintergrundunschärfe – ist recht unruhig; Lichtpunkte werden bei Offenblende als Kringel wiedergegeben. Vignettierung und CAs bleiben relativ gemässigt.

Das Fotografieren mit dem winzigen Tessar an der α900 ist ein spezielles Vergnügen; man lernt rasch, das geringe Gewicht zu schätzen und die speziellen Abbildungseigenschaften gezielt einzusetzen.

 

KOPIEN, PARALLEL- UND WEITERENTWICKLUNGEN

1920 lief der Patentschutz des Tessars aus. In der Folge fertigte praktisch jeder Kamera- und Objektivhersteller, der etwas auf sich hielt, ein kopiertes oder verbessertes Tessar. 1925 brachte der Mikroskop-Bauer Leitz mit der Leica die erste praxistaugliche Kleinbildkamera auf den Markt. Trotz der zunächst eher bescheidener Bildqualität und des hohen Preises (275 RM) setzte sie sogleich zum Siegeszug an. Grossen Anteil daran hatte die Leitz’sche Variante des Tessar, das von Max Berek berechnete Elmar 3.5/5 cm. Leitz lieferte weitere Elmare (= Tessare), so das 3.5/3.5 cm, das 4/9 cm und das 4.5/13.5 cm. Damit waren am Kleinbild die Grenzen des Tessars abgesteckt – das 35 mm Elmar vignettierte bereits kräftig, und dem 135 mm-Elmar mangelte es fürs anspruchsvolle Kleinbild an Auflösung. Das 90er und das 50er hingegen begründeten den Weltruhm der Leica-Objektive – auf der Basis von Zeiss. Das Xenar von Schneider, das Ysar von Rodenstock und manche Ektare von Kodak sind weitere berühmte Objektive, die auf dem Tessar-Prinzip basieren.

Zeiss konterte die Herausforderung. Nachdem mit dem Tessar alle Bildfehler im Rahmen des Sinnvollen korrigiert waren, wandte man sich ab 1920 der Erhöhung der Lichtstärke zu. 1932 führte Zeiss als Reaktion auf die Leica die legendär luxuriöse Contax ein. In jeder Beziehung anspruchvoller konstruiert als die Leica, kostete sie ein Vermögen - soviel wie ein halbes Kilo Gold. Sie war damit doppelt so teuer, aber auch doppelt so lichtstark wie die Leica, und sie wartete sie mit Objektiven auf, die die Konkurrenz für die nächsten 15 Jahre hinter sich liessen: Die vom jungen Ludwig Bertele entwickelten Sonnare und Biogone waren ab 1931 die Spitzenobjektive von Zeiss.

P. S.: Leitz und Nikon lieferten beide bis vor kurzem noch waschechte Tessare - das kompakte Elmar M 2.8/50 mm bzw. das Nikon 2.8/45 mm P haben prinzipiell den gleichen Aufbau wie das Zeiss Tessar von 1902.

 

HINTERGRUNDINFOS

Seidel, Abbildungsfehler und ihre Korrektur

Ludwig von Seidel legte 1857 das Standardwerk zur Korrektion optischer Fehler vor. Nach ihm benannt sind die fünf klassischen monochromatischen Abbildungsfehler (sphärische Aberration, Koma, Bildfeldwölbung, Verzeichnung und Astigmatismus). Bei farbigem Licht sind zusätzlich die lateralen und longitudinalen chromatischen Aberrationen (CAs) zu korrigieren. Reflexionen Da jede Glas-Luft-Fläche rund 5% des Lichtes reflektiert, war man vor der Erfindung der Vergütungen (Smakula bei Zeiss, 1936) auf Konstruktionen mit zwei bis drei (in Ausnahmefällen vier) Gliedern eingeschränkt. Man versuchte, sich weitere Freiheitsgrade zu verschaffen, indem man zwei, drei oder vier Linsen aus unterschiedlichen Glassorten zu einem einzelnen Glied verkittete, denn innerhalb dieser mehrlinsigen Glieder treten kaum Reflexionen auf. Dazu verwendete man Kanada-Balsam, der bei den inzwischen gegen 100jährigen Objektiven teils spröde oder trüb geworden ist. Betroffene Objektive kann man zerlegen, die Linsen mittels Lösungsmitteln reinigen und sie dann neu verkitten. Heikel ist dabei die korrekte Zentrierung.

 

Thomas Kreil über die Tessar-Kopie "Xenar" von Schneider Kreuznach

"Die Xenare sind nur einige der weltweit sehr vielen Tessar-Nachbauten, die es bis heute gibt (Congo, etc.). Daher können die Angaben für das Tessar im Prinzip 1:1 übernommen werden. Beim 3,5-er handelt es sich um besonders für das Portraitfach gefertigte Fachobjektive mit ca. 46 Grad Bildwinkel, die 4,5-er mit 60 Grad Bildwinkel waren der allgemeinen Gebrauchsfotografie zugeordnet und die 6,3-er mit 70 Grad Bildwinkel sind die schärfsten Tessare (im GF) für normale Aufnahmeabstände für Werbung, Dokumentation, Technik und Architektur. Das 3,5-er hatte im Bereich der ehemaligen DDR einen besonders guten Ruf bei den Portraitisten (300-er an der 10x15 Mentor Spiegelreflex oder Globica), da an die wohlbekannten Meisterobjektive Heliar oder das Universal-Heliar eigentlich nicht heranzukommen war. Die beim normalen (1:4,5-er) Tessar zu große Schärfe ließ zwar jede Pore anatomisch exakt abbilden, der menschliche Portrait-Kopf ist jedoch kein anatonisches Präparat. Bei Farbabbildungen war das 3,5-er beliebter wegen der wesentlich wärmeren Farbabstimmung."  Zitatquelle hier